Über 70 Jahre ist es her, dass Mercedes-Benz mit dem 300 SL Flügeltürer die 24 Stunden von Le Mans gewann. Wir haben ihn noch einmal gefahren.
Beim Blick auf die Porsche-Kurven, mit dem ikonischen Boxengebäude über meiner Schulter, muss ich mich kneifen. Da schlängeln sich Bugatti, Bentley, BMW 328, Talbot und sogar ein Lagonda um den Circuit de la Sarthe. Mit Tempo und Engagement auf geheiligtem Terrain. Auch wenn sie nun über den modernen Kurs fahren, wirken sie immer noch stimmig, diese Le-Mans-Helden aus den 1920er- und 30er-Jahren. Bei ihrem Anblick bekomme wohl nicht nur ich einen Kloß im Hals. Sicher auch die 200.000 Besucher der diesjährigen Le Mans Classic, die den Auftritt der 750 Rennwagen aus allen Epochen genießen dürfen, die Tag und Nacht in verschiedenen Startaufstellungen gegeneinander antreten.
Und gleich bin ich an der Reihe, und zwar in einem ganz besonderen Mercedes-Benz. Es war am Wochenende des 14. und 15. Juni 1952, dass das Stuttgarter Werksteam hier in Le Mans mit dem brandneuen 300 SL und den Paarungen Hermann Lang/Fritz Riess und Theo Helfrich/ Helmut Niedermayr einen Doppelsieg erzielte. Nur der dritte Wagen, besetzt mit Karl Kling und Hans Klenk, schied nach neun Stunden mit einem Elektrikproblem aus.
Der neue W194 war der erste Mercedes mit der Bezeichnung “SL” und Vorläufer des späteren “Flügeltürers” (W 198); zehn Stück wurden gebaut. Dieser Doppelsieg bewies die Vormachtstellung von Mercedes-Benz, die während der gesamten Saison anhielt. Denn es folgten weitere Erfolge in Bern-Bremgarten, beim Eifelrennen auf dem Nürburgring (dort als Spyder) und bei der Carrera Panamericana in Mexiko. Beim Debüteinsatz, der Mille Miglia von 1952, hatte Mercedes mit einem zweiten (Kling/Klenk) und vierten Platz (Caracciola/Kurrle) sein Potenzial bereits angedeutet.
Manche halten den W194 für den bedeutendsten Nachkriegs-Mercedes: Schließlich markierte er die Rückkehr des Unternehmens in den Motorsport. Auch wenn der wertvollste Schatz der Stuttgarter nach wie vor der 300 SLR “722” von Moss/Jenkinson ist, der seit seinem Sieg 1955 für alle Zeiten den Rundenrekord bei der Mille Miglia hält, und das Uhlenhaut-Coupé von 1955 mit 135 Millionen Euro zu den zehn teuersten Autos gehört, die je bei einer Auktion unter den Hammer kamen, darf man nicht vergessen, dass alles hier begann. Das Auto, in dem ich sitze, hat die Fahrgestellnummer 0005. Es ist der Wagen, mit dem Hermann Lang und Erwin Grupp vor 70 Jahren bei der Carrera Panamericana hinter Kling und Klenk den zweiten Platz belegten. Seitdem blieb es im Besitz von Mercedes-Benz.
OCTANE wurde eingeladen, mit dem SL bei der zehnten Auflage von Le Mans Classic Demonstrationsrunden auf dem großen, 13,6 Kilometer langen “Circuit de la Sarthe” zu drehen. Ich werde auf dem heißen Stuhl sitzen, und das Privileg ist mir nicht entgangen: Um hier antreten zu dürfen, muss man normalerweise auch hier Rennen fahren. Ich versuche, nicht groß über den potenziellen Wert dieses Autos nachzudenken (10 Millionen Euro? 20 Millionen Euro? Mehr?). Da Mercedes auf die übliche Bedingung verzichtet, für die Fahrt in einem seiner Rennwagen eine Rennlizenz vorweisen zu müssen, stelle ich mich gern der Prüfung.
Der W194 war im Prinzip eine Neuanordnung bestehender Teile in einer radikal neuen, leichten Karosserie/Fahrwerkskombination, entworfen vom genialen Leiter des Pkw-Versuchs, Ingenieur Rudolf Uhlenhaut. Die Achsen, das Getriebe und der Motor stammten aus dem Mercedes 300 “Adenauer” (W189), die zusätzliche Leistung spendete die Dreivergaseranlage der exklusiven 300-S-Version (W 188). Das Ergebnis: 170 PS, 20 PS mehr als beim 300 S, aber immer noch etwas zu wenig im Vergleich zu den 205 PS, die Jaguar für seinen C-Type angab, ganz zu schweigen von den 300 PS des Chrysler-V8 im viertplatzierten Cunningham C-4R. Uhlenhauts Lösung war ein extrem leichter und dennoch verwindungssteifer Rohrrahmen aus sehr dünnen, zu Dreiecken zusammengesetzten Rohren.
Er wog nur 50 Kilo und drückte das Gewicht des von einer stromlinienförmigen Leichtmetallkarosserie umhüllten Coupés auf 1100 Kilo. Der Motor wurde zugunsten einer möglichst flachen Bugpartie um 50 Grad nach links geneigt eingebaut. Zusammen mit einer oberhalb der Gürtellinie extrem schmalen Karosserie und anderen Finessen ergaben sich ein cw-Wert von 0,25 und eine Stirnfläche von nur 1,8 Quadratmetern.
Bei den Mille-Miglia-Wagen begann der Türausschnitt noch oberhalb der Gürtellinie. Damit die Fahrer – eher von oben als von der Seite – einsteigen konnten, wurde er bis ins Dach erweitert. Um in Le Mans schnelle und mitunter rennentscheidende Fahrerwechsel durchführen zu können, verlängerte Mercedes mit Billigung der Le-Mans-Veranstalter (es gab im Reglement keinen Passus zur genauen Gestaltung von Türen) den Ausschnitt nach unten – die finale Version der berühmten “Flügeltür”.
Text: Glen Waddington // Fotos: Craig Pusey und Marco Nagel, mit freundlicher Genehmigung von Mercedes-Benz Classic; HK Engineering // Bearbeitung: Thomas Imhof
Lesen Sie in OCTANE #62, wie der Mercedes 300 SL zu einer Ikone wurde.
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