Maserati Ghibli
Text Richard Hesseltine
WENN DIE LEUTE VON DEN ERSTEN SUPERCARS SCHWÄRMEN, DANN REDEN ALLE IMMER VOM LAMBORGHINI MIURA ODER DEM FERRARI DAYTONA. DABEI WAR DER MASERATI GHIBLI BESSER ALS BEIDE
Vergleicht man nur die Daten, dann ist der Maserati Ghibli seinen Artgenossen unterlegen. Der Ferrari Daytona ist schneller – genauso wie der Lamborghini Miura. Trotzdem: Nur wenige Autos verfügen über einen so hypnotischen Zauber wie der letzte der wirklich grandiosen Gran Turismos aus dem Hause Maserati. Im Gegensatz zu dem schrillen Brüller Miura hat er funktioniert. Und sich besser verkauft als andere. Man muss sich also fragen, warum er immer im Schatten der anderen stand, wo er doch – bitte nur flüstern – das bessere Auto ist. Kein Witz! Er ist besser.
Als der Maserati Ghibli 1967 in Produktion ging, wurde er von den Medien mit Lob überhäuft. US-Publikationen überschlugen sich förmlich. Car & Driver beispielsweise schrieb: »Trotz der ziemlich archaischen Exotika unter der Haube ist dieser ehemalige Rennmotor so sehr verfeinert worden, dass selbst der Betrieb im Stop-and-Go-Verkehr keinen Grund zur Sorge darstellt.«
Bemerkenswerterweise hatte Maserati mit dem Verkauf von nur hundert Maserati Ghibli gerechnet und die Nachfrage nach dem Luxus-Coupé (Listenpreis: 69.300 Mark) ernsthaft unterschätzt. Man rechnete in Modena noch einmal nach, machte neue Hochrechnungen und korrigierte das Verkaufsziel auf 400 Fahrzeuge. 1968, im selben Jahr, als der Maserati Ghibli einen offenen Zwilling erhielt, verkauften die Orsis die Firma Maserati an Citroën. Der wundervolle Ghibli Spider wurde in jenem Jahr auf der Automobilausstellung in Turin präsentiert und war unter der Haut – abgesehen von Verstärkungen an den Schwellern und um den Kardantunnel – dasselbe Auto wie das Coupé.
AUSSEN PERFEKT PROPORTIONIERT UND IM INNEREN SEHR ELEGANT
Die meisten offenen Maserati Ghibli gingen in die Staaten. Ab 1969 gab es auch noch einen SS mit einem auf 4930 ccm vergrößerten V8, der es – so sagt man – auf 330 PS gebracht hat. Die Produktion wurde bis 1973 fortgesetzt. Insgesamt verließen 1149 Maserati Ghibli mit festem Dach das Werk in Modena. Die Form des Ghibli ist aufgeräumt, aber dennoch keineswegs langweilig. Mit seiner langen, spitz zulaufenden Nase, den ausgedehnten Glasflächen und dem abgeschnittenen Heck ist er perfekt proportioniert. Giugiaro war damals noch am Anfang seines Wegs zum Designer-Koloss, der er einmal werden sollte.
Und man kann durchaus sagen, dass die späteren Maserati-Designs des Meisters – der Bora und der Merak – trotz all ihrer Faszination nicht so sehr ins Schwarze trafen wie der Maserati Ghibli. Im Innenraum herrscht schlichte Eleganz, wobei Fahrer und Beifahrer durch die Mutter aller Kardantunnel getrennt sind. Die Windschutzscheibe ist riesig, die Säulen sind spindeldürr – und das Armaturenbrett ist übersät mit Weiß-auf-Schwarz-Instrumenten und fetten Kippschaltern. Das attraktive, wenn auch tief sitzende Holzlenkrad ist nicht längsverstellbar und verdeckt den Tacho teilweise.
FÜR EINEN SECHSSTELLIGEN BETRAG WURDE UNSER FOTOMODELL VÖLLIG NEU AUFGEBAUT
Halten wir uns noch einmal kurz vor Augen: Manufaktur für Rennautos packt so eine Art Straßenwagen in edelstes Designertuch, mehr Understatement als Protzerei, und unter der eleganten Karosserie wird nun der Motor angelassen. Eine Viertelumdrehung mit dem Schlüssel (zum Starten der zwei elektrischen Benzinpumpen); das stehende Gaspedal ein paar Mal durchtreten (zum Fluten der Doppelvergaser); dann, mit einer vollen Umdrehung des Schlüssels, springt der Maserati Ghibli voller Aggressivität an (zum Glück).
Unser Exemplar klingt besonders überschwänglich, wurde es doch für einen sechsstelligen Betrag völlig neu aufgebaut (von McGrath Maserati). Die hydraulische Kupplung ist schwergängig, aber mit einem angenehm progressiven Druckpunkt, während sich der Schalthebel des ZF-Fünfganggetriebes erfreulich leicht und präzise durch die Kulisse führen lässt. Sich zu verschalten, ist praktisch unmöglich. Bummelei liegt dem Maserati Ghibli nicht wirklich, dennoch lässt er sich gut im alltäglichen Straßenverkehr bewegen. Einzig seine niedrig übersetzte Lenkung macht die Sache anstrengend, da man schon ordentlich am Lenkrad kurbeln muss, damit es zu einer spürbaren Richtungsänderung kommt.
Ist man erst auf einer offenen Straße angekommen, zeigt der Maserati Ghibli seinen wahren Charakter. Mit einer Länge von 4,57 Metern und einem Gewicht von fast 1600 ist er nicht eben zierlich, aber auch nicht schwerfällig. Es geht sehr entspannt und zivilisiert zu – bis man sich entschließt, voll aufs Gas zu treten und den Motor mal richtig aufzudrehen.
Bei 3000 U/min wird der Ton härter und der Maserati Ghibli schießt nach vorn. Damals »attestierte« Maserati dem Ghibli eine Höchstgeschwindigkeit von 280 km/h. Der Ghibli war – wie auch hobby herausfand – nicht ganz so schnell wie einige seiner Konkurrenten, doch er ist ein Auto, das einen durch und durch packen kann, wenn man es zulässt.
TROTZ SEINES HÖLLISCHEN DURSTES IST DIESER MASERATI EIN AUTO, MIT DEM MAN NUR ZU GERN AUF GROSSE FAHRT GEHT
Und er ist ein Auto, das einem auch in Kurven Freude bereitet. Das Bremssystem mit den belüfteten Scheiben funktioniert ebenfalls gut. Die wahre Freude beim Fahren eines Maserati Ghibli verdankt der Fahrer denn auch seiner Fähigkeit, förmlich zu schweben. Maserati hatte einst die ganz besondere Fähigkeit, Supercars zu bauen, die mit ihrem großzügigen Radstand nicht furchteinflößend waren (Der Bora, beispielsweise, war das am wenigsten nervenaufreibende Supercar der 1970er.) Trotz seines höllischen Durstes ist dieser Maserati ein Auto, mit dem man nur zu gern auf große Fahrt geht. Und genau das war die Raison d’être für einen GT. Zieht man dieses Kriterium als Bewertungsmaßstab heran, dann hängt der Maserati Ghibli seine – teureren – Rivalen ab. Nach allen Regeln der Kunst.