Ein Pariser Nachtclub, Édith Piaf, Django Reinhardt, eine Beschlagnahme durch die Nazis samt unerwarteter Rückgabe, ein Diebstahl, ein Winzer in der Toskana und ein Spitzenrestaurant in den Niederlanden: Das schwungvolle Leben eines Mercedes 540 K.
Einen Teil der Geschichte erzählt bereits das Schwarzweißfoto, drei Männer und eine Frau an einem großen Mercedes, einem Zweisitzer. Die Kapuze ist geschlossen, als Schutz vor der brennenden Sonne. Einer der drei Männer schaut direkt in die Kamera, mit entblößtem Oberkörper, geölten Haaren und nonchalant eine Zigarette in der Hand.
Die junge Frau schaut den Fotografen neugierig an, und es scheint, dass sie mit dem Mann neben sich auf dem Kotflügel des Mercedes steht. Die Vier strahlen Wohlstand und Lebensfreude aus, als ob es ganz selbstverständlich sei, dass man für ein Foto auf ein wertvolles Auto klettert. Offenbar wird der Mercedes auch engagiert bewegt, die fast abgefahrenen Vorderreifen zeugen davon.
Es handelt sich um einen 540K, eines der teuersten und schnellsten Autos der 30er-Jahre, und der Mann im Vordergrund ist der glückliche Besitzer, Pierre Franchi. Er erhielt den Mercedes als Geschenk von seiner Schwester Lucy, der jungen Frau auf dem Bild, das wahrscheinlich irgendwo in der Nähe von Marseille aufgenommen wurde. Die Vier waren auf dem Weg von Paris nach Korsika.
Was die lange Geschichte des Mercedes besonders macht, ist das turbulente Leben von Pierre und Lucy Franchi mit La Roulotte als musikalischem Epizentrum, damals eines der berühmtesten Etablissements in Paris. Lucy hatte einen Riecher für neue Talente, wie Robert Scheerboom in seinem Buch über den 540 K schreibt, und bot ihren Entdeckungen eine Bühne im La Roulotte oder einem ihrer anderen Clubs an. Eines Tages sah sie auf der Straße eine junge Sängerin. Lucy gefiel ihre Stimme so gut, dass sie ihr sofort eine Rolle in »Juan-les-Pins« anbot, einer Kabarettnummer.
Die Sängerin hieß Édith Giovanna Gassion. Nicht lange, nachdem ihr Leben auf der Straße vorbei war, nahm Louis Leplee vom Cirque Medrano sie unter seine Fittiche und gab ihr den Künstlernamen, unter dem sie unsterblichen Ruhm erlangte: Édith Piaf. Sie trat viele Jahre lang im La Roulotte auf und verdankt einen Großteil ihres Erfolgs Lucy Franchi und Louis Leplee. Piaf widmete der Rue Pigalle sogar ein Chanson – »Elle fréquentait la rue Pigalle«.-
Lucy besaß nicht nur eine üppige Brieftasche, sondern auch einen ausgezeichneten Geschmack. Sie entschied sich für eine zweifarbige Lackie- rung, Elfenbein für die Frontpartie, kombiniert mit Dunkelblau für den Rest des Mercedes. Eine raffinierte Ergänzung war der lange dunkelblaue Streifen über die gesamte Länge der Motorhaube, der den 540 K noch eindrucksvoller machte. Sie wollte offene Kotflügel, damit man die dunkel- blauen Speichenräder gut sehen konnte. Lucy wollte auch keine Reserveräder an den vorderen Kotflügeln, wie damals üblich, sondern ließ sie am Heck des Wagens montieren, weil so die grzile Linie der Kotflügel nicht unterbrochen wurde. Um dem Mercedes ein besonders sportliches Flair zu verleihen, entschied sie sich auch für einen Lederriemen über der Motorhaube.
Der 540 K führte ein swingendes Dasein, im Pariser Nachtleben, geparkt in der Rue Pigalle, während Édith Piaf und Django Rheinhardt im La Roulotte ihrer Musik Seele und Glückseligkeit gaben. Er hat Tausende von Kilometern auf französischen Straßen zurückgelegt, auf Reisen nach Korsika und als Künstler-Taxi gedient. Er wurde von den Nazis beschlagnahmt und auf wundersame Weise zurückgegeben, er wurde gestohlen und auf einem französischen Schrottplatz geplündert, er wurde modernisiert und in seinen ursprünglichen Zustand zurückgebracht und befand sich 78 Jahre lang im Besitz derselben Familie. Eine lange und besondere Reise durch die Zeit, mit den guten Dingen des Lebens als rotem Faden, von einem Pariser Nachtclub bis zu einem schönen Weingut in der Toskana. Der 540 K ist in guten Händen – darauf kann man ein gutes Glas Wein trinken!
Text: Ton Roks; Fotos: Luuk van Kaathoven; Bearbeitung: Jörn Müller-Neuhaus