Der erste Eindruck, wenn man im Lancia Sibilo Platz nimmt, ist bestenfalls sonderbar. Zwischen Getriebetunnel und einem extrem breiten Schweller ist die Sitzposition tiefer, als man es für möglich hält. Die Pedale sind zur Wagenmitte hin positioniert, das Lenkrad ist eine Plastikscheibe mit breitem Griffrand und riesigen Funktionsknöpfen, rings um das Lenkrad sind weitere Bedienungselemente angeordnet. Das Armaturenbrett ist nicht mehr als eine gepolsterte Querversteifung. Scheinbar beliebig platziert sitzen unterhalb der Windschutzscheibe horizontal angeordnete Digitalanzeigen. Wenn sie leuchten, wirkt das Ganze wie Mix aus Kinderspielzeug und Tron.
Dann ist da noch diese Windschutzscheibe: riesig und aus Glas. Glas sucht man in der Fahrertür dagegen vergeblich: Hier wurde in die Seitenfläche aus Acryl ein kleines Bullauge gestanzt. Das Innere des Lancia Sibilo ist also eher gewöhnungsbedürftig. Doch das wahre Problem ist die Farbe außen: braun, geradezu widerwärtig braun. Auf so eine Idee konnte man nur in den 1970er-Jahren kommen. Trotzdem fühlt man sich sofort wie auf einer Zeitreise in die Zukunft, wie sie der Designer Marcello Gandini wohl vor Augen hatte, als er den Sibilo entworfen hat.
Wer diesen Wagen nun aber als durchgeknalltes Konzept von anno dazumal abhakt, hat den Sinn
dahinter nicht erfasst. Auf geradezu brillante Weise hat der Sibilo Ideen und Konstruktionsmethoden vorweggenommen, die in den folgenden Jahrzehnten bis in die Serienproduktion von Alltagsautos durchgesickert sind. Mehr noch: Man könnte den Wagen als ultimative Evolutionsstufe des Lancia Stratos bezeichnen – der Rallye-Waffe, auf der er basiert.
Schön ist er nicht, zeitlos schon gar nicht. Aber immerhin ist es kein Design, das man sieht und wieder vergisst. Der Lancia Sibilo ist schon etwas ganz Besonderes. Der Treppenwitz der Geschichte ist, dass er es beinahe nicht zu seiner Enthüllung auf dem Turiner Autosalon im April 1978 geschafft hätte. Was gleichermaßen an der politischen und gesellschaftlichen Unruhe in Italien lag, als auch an der Tatsache, dass ein Zulieferer das Team im Stich gelassen hatte. Der Grundgedanke des Sibilo war es, neue Ideen zu präsentieren, allen voran die Verschmelzung der Fenster mit der Karosserie. Ziel war eine durchgehende Form oder – in den Worten von Bertone – eine »einheitliche Skulptur ohne Trennlinien«. Chefdesigner Gandini war dafür genau der richtige Mann. So wie sein Kollege aus der Piemonter Designschmiede, Franco Scaglione, war Gandini ein Autodidakt, der gerne Regeln brach und Risiken einging, ohne sich groß um Konventionen zu scheren.
Text Richard Heseltine Fotos Mark Dixon
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