Text Richard Heseltine // Foto Mark Dixon
ZUM FIRMENJUBILÄUM IN GENF HABEN ALLE HEFTIG APPLAUDIERT, ALS DER BERTONE NUCCIO ENTHÜLLT WURDE. DOCH WIE SCHLÄGT SICH DIE STUDIE BEI TAGESLICHT BETRACHTET?
Nichts verblasst so schnell wie eine Zukunftsvision. Konzeptautos machen da keine Ausnahme. Im Rückblick bleibt von den meisten kaum mehr in Erinnerung als der Eindruck einer aberwitzigen Sinnestäuschung. In der heutigen Zeit wirken viele antiquiert und alles andere als atemraubend. Ausnahmen ausgenommen. Eine ist der Stratos Zero von Bertone (siehe OCTANE Ausgabe 12). Er bringt einen immer noch zum Staunen. Die hier vorgestellte Studie ist sein geistiger Urenkel, ein Kniefall vor Giuseppe ‚Nuccio‘ Bertone.
Der Nuccio basiert auf dem F430, doch an diesem Auto erinnert fast nichts an das springende Pferd. Er bietet einen fesselnden Anblick. Trotz so mancher Styling-Elemente aus dem Zero-Katalog präsentiert er eher einen Stilmix aus Bertones bewegter Vergangenheit, kombiniert mit einigen neuen Elementen. Für Robinson, früher Designchef von Fiat und Lancia, bedeutet das Modellieren des Nuccio das Schließen eines Lebenskreises: »Ich war schon als Heranwachsender autoverrückt, so wie alle Kids in Kalifornien. Als ich die ersten Bilder des Zero zu sehen bekam, hat es mich weggeblasen. Sie haben mich dazu animiert, Designer zu werden. Und all diese Jahre später habe ich tatsächlich die Chance bekommen, dieses Meisterstück neu interpretieren zu dürfen.«
ES IST EIN STILMIX AUS BERTONES BEWEGTER VERGANGENHEIT, KOMBINIERT MIT EINIGEN NEUEN ELEMENTEN.
Es blieb für ihn aber eben nicht bei einer Retro-Runderneuerung mit dem Ziel, die Errungenschaften des Urahns auszureizen: »Mit der leicht aufpolierten Kopie eines Originals erreicht man rein gar nichts. Wertlos. Andererseits kann man sich leicht verzetteln, wenn man sich zu weit von der Origi-nalvorlage entfernt. Ist die Verbindung einmal gekappt, ist man verloren. Mit dem Nuccio wollten wir einen modernen Supercar kreieren: voll und ganz alltagstauglich, ohne auch nur ein Jota des überragenden Eindrucks preiszugeben. Ich denke, das ist uns gelungen.« Durch das Spiel aus konkaven und konvexen Linien, ganz zu schweigen vom nach vorne geneigten Fahrgastraum, wirkt das Ganze wie ein straffes Muskelpaket. Im Gegensatz dazu stehen die höchst konventionellen Türen. Bei der Gestaltung des Daches hat sich Robinson sowohl von der Natur als auch von zeitgenössischer Architektur inspirieren lassen.
Robinson hat sich vor allem von der Gattung der Reptilien inspirieren lassen: »Wenn du die Augen eines Krokodils zu sehen bekommst – normalerweise die einzigen Details ihrer Anatomie, die oberhalb der Wasserlinie sichtbar sind – bist du so gut wie tot. Krokodile schauen so unheilvoll und bewegen sich so unfassbar schnell. Dieses Bedrohliche wollte ich einfangen, zusammen mit dem Gefühl für blitzschnelle Bewegung.« Den reptilienartigen Ausdruck verstärkt eine »virale Grafik«: ausgestanzte Kerben, die an Schuppen erinnern und in die hintere Abdeckung eingelassen worden sind.
Der Nuccio protzt mit einer Besonderheit, die man an keinem anderen Wagen findet: Frontbremsleuchten. Aber ein ganz eigenes Highlight inszeniert den Nuccio krachend: die Farbkombination. Orange war die Lieblingsfarbe von Signore Bertone. Der Design-Pionier hat sie des Öfteren als eine Quelle seiner Kreativität bezeichnet. Die Räumlichkeiten der Firma in Turin sind förmlich überflutet von einem besonders eindrücklichen Orangeton. Orange auf Anthrazit ist nun, gelinde gesagt, eine kühne Kombination, und das Finish der Lackierung verdammt nah an vollkommener Perfektion, ebenso wie die millimetergenauen Spaltmaße. Konzeptautos sind allein per Definition flüchtige Wesen. Ihr Bau wird nicht durch den Gedanken an Dauerhaftigkeit bestimmt. Doch hier ist das Gegenteil der Fall.
WIE ZU ERWARTEN, FÜHLT MAN SICH WIE IN EINEM FERRARI F430, ABER MIT DEM GEFÜHL DES BESONDEREN, DAS EINEM IN MASSENPRODUKTEN ABGEHT.
Sitzt man erst mal im Fahrzeug, so ist der Eindruck eher bodenständig. Um die Orientierung zu erleichtern, sind in den A-Säulen getönte und von außen unsichtbare Scheiben integriert. Einen Innenspiegel gibt es nicht. Praktisch ist daher auch die rückwärtig angebrachte Außenkamera und ein LCD-Bildschirm. Der prominenteste Kollege auf der Konsole aus gebürstetem Aluminium ist der Startknopf in knalligem Rot. Tief Luft holen, Taste drücken und der Nuccio erwacht mit einer Fanfare aus Surround-Sound. Mit der rechten Hand schubst man den paddelförmigen Schaltknüppel Richtung Gang eins, berührt sanft das Gaspedal und erfreut sich sofortiger Beschleunigung.
Wie zu erwarten, fühlt man sich wie in einem Ferrari F430, aber mit dem Gefühl des Besonderen, das einem in Massenprodukten abgeht. Wenn die Rede darauf kommt, ob das Schmuckstück demnächst nach Fernost reisen wird, hüllen sich die Mitarbeiter in Schweigen. Dabei hat er bereits alles erreicht, was für ihn zu erreichen war. Er hat sich seine Meriten redlich verdient. Seitdem der Nuccio in Genf vorgestellt wurde, diente er als Markenbotschafter für den Grandseigneur des italienischen Designs.