50 Jahre Fiat 130 und welche Rolle die Vernunft dabei spielt.
Der Begriff der Vernunft wird in der Philosophie unterschiedlich bestimmt. In seinem Verhältnis mit dem Begriff des Verstandes hat er im Verlauf der Geschichte von der griechischen Philosophie über das Mittelalter bis in die Neuzeit Wandel erfahren. In der Neuzeit entwickelte sich ein Begriffsinhalt, wie er von Immanuel Kant in der Kritik der reinen Vernunft formuliert wurde und so in der Moderne noch weitgehend üblich ist. So weit ein Zitat aus Wikipedia zum Begriff »Vernunft«, der uns hier als Einleitung gute Dienste erweist, wie sich herausstellen wird.
Denn er hatte es vom Grunde her und von Anfang an schwer, der Fiat 130. Bereits in der eigenen Firma gab der Chefkonstrukteur Dr. Dante Giacosa unumwunden zu, dass ihn »Autos für die Privilegierten« nicht besonders reizten, es sei vielmehr von überragendem (volks)wirtschaftlichem Interesse, die Mobilität aller in vernünftiger Art zu ermöglichen. Giacosas Bekenntnis trug neben der Frage nach der Notwendigkeit des Baus von großen Wagen für wenige auch eine philosophische Komponente über das Selbstverständnis von Fiat in sich. Und dieses war nicht weniger als dass allein der erfolgreiche Produzent gemäß seiner Erkenntnis durch Denken in der Lage ist, die Leistung eines Angebotes als ausreichend vernünftig festzulegen. Zum Zeitpunkt dieser Aussage war Fiat ein nationaler Champion, der Flugzeuge, Schiffe, Eisenbahnen, Kühlschränke und natürlich Autos baute. Dante Giacosa war fast 40 Jahre in Fiat Diensten und somit hatte er die natürliche Autorität und immer recht!
Diese philosophische Haltung spielt in der Geschichte des Fiat 130 eine wesentliche Rolle. Giovanni Agnelli gab Dante Giacosa und seinem Team den Auftrag, ein Nachfolgemodell des Fiat 2300 zu entwickeln, das ein veritabler Erfolg als Spitzenmodell der Fiat Modellpalette in den Jahren 1961 bis 68 in Italien war. Allerdings sollte der Nachfolger auch in den Exportmärkten ein Erfolg werden.
Den Fiat-Verantwortlichen war klar, dass ihr Erfolg im Wesentlichen auf der Strategie beruhte »vernünftige Autos zu einem vernünftigen Preis anzubieten«. Das war die Leitlinie, für die der Konzern stand und mit der er zum größten europäischen Automobilproduzenten der 60er-Jahre wurde. Das war die Vorgabe, mit der Fiat annahm, auch in der Klasse der »3-Liter-Wagen« erfolgreich sein zu können, denn quasi nebenbei sollte das neue Modell gleich noch die obere Mittelklasse verlassen und direkt in der umkämpften Oberklasse positioniert werden. Und das Beharren auf Vernunft war auch der grundsätzliche strategische Fehler, den Fiat erstmals beim Typ 130 machte und später in anderen höher positionierten Modellreihen wiederholte. Denn Vernunft ist oft langweilig, selten glamourös und nie aufregend.
Natürlich bauten Dante Giacosa als Gesamtverantwortlicher, Mario Felice Boano als hauseigener Designer und der Motorentechniker Aurelio Lampredi einen sehr guten Wagen mit dem Fiat 130. Er bot moderne Technik, konservatives Design und eine weit über dem Klassendurchschnitt liegende Ausstattung und war damit ein komfortbetonter, sicherer Wagen, der bewusst unauffällig und zurückhaltend aussah und sich mühelos fahren ließ. Der ganze technische Aufwand des Fiat 130 hätte auch für einen V8 und ein Spitzentempo oberhalb von 200 km/h entworfen sein können, es gab aber einen V6 der maximal für 180 km/h reichte und durch eine US-Automatik eingebremst wurde. Dieses Tempo konnte der Wagen aber so bequem und mühelos erreichen, dass er damit genau die ihm von Giacosa zugedachte philosophische Rolle »der Vernunft in der großen Klasse« spielen konnte. Und genau mit dieser Werbeaussage wurde die Vernunft der Kunden, die sonst Mercedes, BMW und Jaguar kauften, gänzlich falsch eingeschätzt.
Text Sven Schrader / Fotos Mario Brunner
Lesen Sie die ganze Geschichte in OCTANE #44
Diese Story finden Sie in OCTANE Ausgabe 44
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