Bis jetzt habe ich Glück gehabt. Sonntagsmorgens sind nur wenige Menschen auf der Piazza San Carlo in Turin unterwegs, und während ich mit meinem kläglichen Italienisch zaghaft Rede und Antwort stehe, kommt das Wesentliche doch rüber: sehr bedeutender Ferrari, aus Großbritannien, Nationales Automobilmuseum.
Der Überfall einer kompletten Jogginggruppe ist für meine rudimentären Kenntnisse aber dann doch zu viel. Schön, wenn man da einen Kollegen wie Clive hat, der einem auf die Schulter klopft, lächelt und auf den wunderschönen Ferrari 166 MM Barchetta zeigt. »È la prima Ferrari di Gianni Agnelli«, verkündet er. Die Jogger sind begeistert. »Ah, si, si, der erste Ferrari von Gianni Agnelli!«
Clive und ich preschen wie Helden davon und lassen die Musik des V12 an eleganten barocken Fassaden entlang ertönen. »Das ist so ziemlich der einzige komplette Satz, den ich kann«, sagt er. »Aber mit diesem Auto in Italien unterwegs, brauchst du keinen anderen.«
Und das meint Clive Beecham durchaus ernst. Mit einem Ferrari durch Italien zu fahren, ist immer etwas Besonderes; aber mit diesem Ferrari 166 MM Barchetta von Touring, einem echten Meilenstein für den Hersteller wie auch den Karosseriebauer, durch Turin zu fahren, in dem Auto, mit dem Touring seine Ausstellung zum 90. Firmengeburtstag im Museo Nazionale dell’Automobile angekündigt hat, ist noch mal eine ganz andere Dimension.
Und vor dem Hintergrund, dass es auch Gianni Agnellis erster Ferrari war und wir in seiner Heimatstadt damit auf dem Weg zu dem Museum sind, das seinem Andenken gewidmet ist, kommen wir uns vor wie Könige. Die Polizisten schlagen sich um die Ehre, uns unsere Verkehrssünden zu verzeihen, die Anwohner wollen uns auf ihre Facebookseite stellen, und überall bietet sich jemand an, bei Verständigungsproblemen zu helfen. Über ein Jahrzehnt nach seinem Tod 2003 vermag der ehemalige Fiat-Chef die Fantasie seiner Landsleute immer noch zu beflügeln.
Dabei ist der Königsvergleich gar nicht so verkehrt. Wegen seines Juraabschlusses wurde Gianni Agnelli auch l’Avvocato (Rechtsanwalt) genannt. Viele Experten sahen in ihm jedoch den »ungekrönten König von Italien«, und manch ein Realist hätte wohl das Attribut »ungekrönt« weggelassen. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere beherrschte Agnelli über ein Viertel der italienischen Börse, fast fünf Prozent des italienischen Bruttosozialprodukts und drei Prozent der Arbeitskräfte – in Holdingunternehmen von der Spedition über Zeitschriften bis zum Kaufhaus. Kein Politiker hatte so viel reale Macht, und wenn es um Papstaudienzen ging, war wohl eher er als der Papst der bestimmende Faktor.
Für die Bevölkerung war er jedenfalls von weitaus größerem Interesse, und schon bevor er 1966 das Ruder der Firma übernahm, die sein Großvater mitbegründet hatte, besaß er Charisma im Überfluss. Extrem attraktiv und stets makellos gekleidet, war er immer am richtigen Ort mit den richtigen Leuten zusammen, ein Naturtalent in Sachen Trendsetting. Seine Bewunderer trugen ihre Armbanduhren über den Hemdmanschetten und knöpften die Button-down-Kragen ihrer Brooks-Brothers-Hemden auf, weil er das so machte. Einige tun das vielleicht heute noch.
Es verstand sich von selbst, dass der junge, modische Gianni heiß auf den Ferrari 166 MM Barchetta war, den Touring 1948 auf dem Turiner Autosalon vorstellte. Die Modelle davor waren etwas fad gewesen. Mit dem »kleinen Boot« jedoch war Touring-Chef Carlo Anderloni und dem Designer Federico Formenti ein bis dahin beispielloser Blickfang gelungen, der auch noch viel straßentauglicher war als seine Vorgänger. Perfekt für einen unermesslich reichen Playboy Mitte zwanzig, der auf seine Thronbesteigung wartete.
Text Dale Drinnon // Fotos Martin Goddard