Klassiker

Cisitalia – der Italo-Amerikaner

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Kein Geringerer als Henry Ford II. beauftragte Cisitalia, den 808 zu bauen. War dies der erste Sportwagen von Ford? Es ist an der Zeit, eine echte Rarität zu enthüllen.

Dieses Auto sollte einen Traum erfül­len, den nicht nur Henry Ford II. träumte, sondern schon sein Vater Edsel: ein Sportwagen von Ford. Bis heute sehen manche den Cisitalia 808 als erste Verwirklichung dieses Traums. Nur dass ihn nicht die Ford Motor Company realisierte, denn der 808 wurde weder in Dear­ born entworfen noch gebaut. Er vereinte italienisches Design und Handwerkskunst mit amerikanischen Kon­struktionsprinzipien. Das höchst individuelle Ergebnis musste sich letztlich aber dem ersten Seriensportwagen mit dem Blauen Oval geschlagen geben: dem Thunderbird.

Die Compagnia Industriale Sportiva Italia, besser bekannt als Cisitalia, wurde 1939 von dem Industriellen Piero Dusio gegründet. Der Ausbruch des Zweiten Welt­kriegs machte erstmal alle Pläne des Jungunternehmers zunichte. Ab 1945 widmete sich Dusio mit seinem Kon­strukteur Giovanni Savonuzzi dem Bau von Rennwagen. Für die Konstruktion des für Grand­-Prix-­Rennen vorge­sehenen Mittelmotor­Allradlers Cisitalia 360 holte er 1947 sogar Ferdinand Porsche an Bord. Leider erwies sich das Projekt als so teuer, dass es das Unternehmen fast in den Bankrott trieb.

Ford stellte ein Mercury-Chassis zur Verfügung, beides etwas größer, als es der Ingenieur Giovanni Savonuzzi und die Carrozzeria Vignale gewohnt waren. Das Ergebnis war dennoch attraktiv.

Um seine Verluste wettzumachen, entschied sich Dusio für die Herstellung eines Sportwagens und baute 1947 mit der damaligen Carrozzeria Pinin Farina als Partner den Cisitalia 202. Seinen prominentesten Fan fand der 202 in Henry Ford II. Der Enkel des Firmen­gründers bestellte sowohl die Coupé-­ als auch die Cabrio­version, die ein New Yorker Händler importierte und die sich trotz des stolzen Preises von 6800 Dollar beide gut verkauften. Ford war vom Entwurf des 202 so angetan, dass er angeblich sein Designteam fragte, warum sie nicht ein ebenso schönes Auto zeichnen könnten.

Aber manchmal ist Schönheit nicht genug – die Finan­zen von Cisitalia gerieten erneut in Schieflage. Dusio verließ Italien in Richtung Argentinien und überließ das taumelnde Unternehmen seinem Sohn Carlo. Dusio jr. erkannte in der Begeisterung von Henry Ford II. die Chance auf eine Finanz­spritze des amerikanischen Automobilherstellers. 1951 arrangierten er und Savonuzzi ein Treffen in Paris und schlugen Ford eine Zusammenarbeit vor. Der US-­Manager ergriff die Chance, europäisches Design mit amerikanischer Mechanik zu vereinen, und beauftragte Cisitalia, mehrere Prototypen des neuen Sportwagens zu bauen.

Der Sechszylinder mit 120 PS wurde zusammen mit dem Chassis von Mercury geliefert.

Den ersten davon entwarf Felice Mario Boano, den Bau realisierte Ghia in Turin auf einem Cisitalia-Fahrgestell. In den USA nahmen Ford­-Ingenieure den Prototypen unter die Lupe und äußerten eine Reihe von Bedenken – nicht zuletzt wegen des vermutlich sehr hohen Preises. Also ging es zurück ans Zeichenbrett, und Henry Ford II. übergab die Projektleitung an seinen Schwiegersohn Peter Sullivan II. aus Long Island. Diesmal wurde Aldo Brovarone mit dem Design beauf­ tragt, der später zusammen mit Leonardo Fioravanti den Ferrari 246 Dino entwarf, bevor er Chefdesigner bei Pinin­farina wurde. Brovarone arbeitete zusammen mit Savonuzzi an dem Projekt, zog aber auch Giovanni Michelotti hinzu, eher bekannt durch seine Entwürfe für Ferrari, Lancia, Maserati und Triumph.

Um die Kosten zu senken, sollte der 808 nun auf einem Mercury­-Chassis basieren. Natürlich war dieses Fahrge­stell weitaus größer als das von Cisitalia gelieferte und unterschied sich deutlich von allem, was damals in Italien gebaut wurde. Dafür entsprachen die Dimensionen den Erwartungen des US-­Markts. Cisitalia erhielt 1952 das Chassis plus Mercury­-Sechszylindermotoren, Aufhängungen und Getriebe. Die Italiener optimierten Fahrwerk und Bremsen, fügten Doppelvergaser und eigene Räder hinzu und gestalteten Karosserie und Innenraum.

Die Eleganz innen und außen ist typisch für den italienischen Karosseriebau der 1950er-Jahre.

All dies stellte eine große Herausforderung für Brova­rone dar, der es gewohnt war, viel kleinere Autos zu bauen. Er beschrieb es als fast unmöglich, ein cooles, sportliches und aerodynamisches Auto für das massive Mercury­-Chassis und den kräftigen Motor zu entwerfen. Trotzdem vermittelte seine Kreation exakt jene italienische Eleganz, die Henry Ford II. so begeisterte. Es entstanden vier Prototypen. Man geht davon aus, dass zwei davon überlebt haben, beide gebaut von der Carrozzeria Vignale. Eines davon ist ein Cabriolet, das vor mehr als zehn Jahren voll­ ständig restauriert wurde. Dieses Auto gehört dem kanadi­schen Sammler Urs Jakob, der von seiner Geschichte so gefesselt war, dass er mehrere Jahre über das Pendant, das hier abgebildete Coupé, recherchierte.

Dieses Coupé wurde 1953 gefertigt und auf der New York Auto Show ausgestellt, bevor es für Jahrzehnte ver­schwand. 2004 tauchte es bei der Bonhams Quail Lodge­ Auktion mit einem Schätzwert von 40.000 Dollar wieder auf. Es befand sich in schlechtem Zustand und nur wenige erkannten seine historische Bedeutung. Ohne Zuschlag ging das 808 Coupé an seinen Besitzer in New Jersey zurück. Als Urs Jakob den Wagen dort aufspürte, kaufte er ihn umgehend. »Ein Auto, das Fragen aufwirft, ist ein Abenteuer«, sagt Jakob. »Es ist wie ein Puzzle, das man zusammensetzen muss, wenn man nur einen Teil des Bildes kennt.« Um das ganze Bild zu erhalten, schickte er das 808 Coupé in die Restaurierungswerkstatt der Carrozzeria Gatti Luciano im norditalienischen Bergamo – dieses Team hatte bereits das Cabrio restauriert. Zusammen mit Jakob suchten sie weiter nach Puzzleteilen, wobei verschiedene Automobil­historiker, Cisitalia-­Spezialisten und Museen Informationen lieferten.

Als das Coupé 2020 in der Werkstatt ankam, beschrieb Giovanni Gatti das Projekt als »kompliziert«. Denn im Wesentlichen handelte es sich um ein Fahrgestell mit Kisten voller Teile, Stücken der Karosserie und einem teilzerlegten Motor. Es fehlten wichtige Komponenten wie die Stoßstangen, und der Rest sah ziemlich mitge­nommen aus. Im Zuge der weiteren Recherche gelang Urs Jakob eine besonders wertvolle Entdeckung: die Origi­nalzeichnungen des 808, zur Verfügung gestellt von des­sen Designer Brovarone. Zudem tauchten seltene Bilder des Wagens aus den 1950er-­Jahren auf, darunter ein paar von der Premiere in New York, die deutlich die Stoßstangen zeigten. Irgendwann hatte das Coupé eine unvorteilhafte rote Lackierung erhalten, die komplett entfernt wurde. Den Originalton herauszufinden und zu besorgen, erwies sich als schwierig, da kein Bild die Speziallackierung wirklich perfekt wiedergab.

Text Mark Smyth // Bearbeitung Johannes Schnettler // Fotos Max Serra

Lesen Sie in OCTANE #69, wo die größten Herausforderungen bei der Restaurierung des seltenen Cisitalia lagen.

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