Text Matt Stone // Fotos Shooterz.biz, Chrysler Archiv
DEM VISIONÄREN DESIGNER VIRGIL MAX EXNER, DER DEN PLYMOUTH XNR ERSCHUF, GING ES UM IDEEN – DIE ER MIT EINER EXOTISCHEN DESIGNER-SPRACHE UMSETZTE. DER XNR HAT BIS HEUTE ÜBERLEBT.
Die meisten bezeichnen sie als Concept-Cars oder Konzeptautos, vielleicht als Studien. Die Rede ist von den Dream-Cars, diesen 1:1-Modellen der kühnsten Träume. Oft sind sie motorisiert wie Showcars oder Spielzeugautos – nämlich gar nicht oder nur sehr dürftig – und doch werden sie auf Autoshows bewundert wie Supermodels. Ihnen gilt das ganze Interesse, wenn sie sich vor unseren Augen auf Plattformen drehen und potenziellen Kunden vermitteln, was die Zukunft bereithält.
Virgil Max Exner hatte eine andere Bezeichnung für diese Autos. Er nannte sie »Idea Cars«. Denn dem visionären Designer ging es genau darum: Ideen. Exner begann seine Karriere als Werbezeichner und gelangte schnell zu Ruhm. Als Protegé von General-Motors-Designchef Harley Earl leitete er schon bald die Designabteilung von Pontiac, bevor er 1938 zu Raymond Loewy & Associates ging. Dort arbeitete er hauptsächlich an Studebaker-Projekten. Mit Loewy – als Industriedesigner ein Gigant, von der S1-Dampflok über Greyhound-Busse, Shell- und Lucky-Strike-Logos bis hin zur Coca-Cola-Flasche – kam Exner nicht gut aus, 1944 wurde er entlassen – und ging zu Studebaker.
Die erfrischenden Nachkriegsdesigns von Studebaker werden generell Loewy zugeschrieben, doch zu großen Teilen waren sie Exners Verdienst. 1949 heuerte er bei Chrysler an, wo er später Abteilungsleiter wurde. Sagen wir mal, in Anpassung an das angebrochene Düsenjet-Zeitalter. Dieser Stil, auch »forward look« genannt, war sexy und aufregend. Und er trieb die Verkaufszahlen in die Höhe.
ALLEIN DIE RICHTIGEN LEUTE ZU FINDEN, DIE DEN XNR WIEDER IN SEINEN URZUSTAND VERSETZEN KONNTEN, HAT 20 JAHRE GEDAUERT!
»Ex«, wie ihn seine Freunde nannten, war ein großer Fan italienischer Karosseriebauer. Daher baute er eine Geschäftsbeziehung zu einem der besten seiner Zunft auf: Luigi Segre bei Ghia. Exner versprach sich davon die schnelle Produktion erschwinglicher, aber hochwertiger Sonderanfertigungen. Die Fernbeziehung Chrysler-Ghia brachte eine ganze Serie von Ideenautos hervor, die über Jahre hinweg die Öffentlichkeit, auch die Presse und vor allem Chrysler-Kunden, begeistert hat.
Chrysler hat 28 als Idea-Cars bezeichnete Modelle auf die Räder gestellt, davon 24 in Kooperation mit Ghia. Entworfen wurden sie meistens von Exner und seinem Team in Michigan, Feinschliff und Montage erfolgten in Turin. In den späten 1950er-Jahren merkte Exner, dass Plymouth einen Sportwagen brauchte. Chevrolet hatte die Corvette, Ford war von 1955 bis 1957 mit dem Thunderbird extrem erfolgreich und Jaguar hatte den XK (schrieb nebenbei Renngeschichte mit dem C-Type und D-Type).
Dann waren da noch Austin Healey, Maserati, Porsche, Ferrari und andere. Ex musste handeln, und er hatte genau die richtigen Zutaten – und Leute – für diese Aufgabe. Er konzentrierte seine ganze Energie auf das Projekt, aus dem schließlich ein radikaler, fast keilförmiger Roadster namens XNR hervorging. Der Wagen wurde in der zweiten Hälfte des Jahres 1959 auf der Basis eines von Chrysler zur Verfügung gestellten Plymouth Valiant-Rahmens bei Ghia zusammengebaut und begeisterte 1960 auf allen großen internationalen Autoshows sowohl die Öffentlichkeit als auch die Medien.
ER WURDE ERDACHT, GEPLANT, GEBAUT, VORGEFÜHRT – UND DAMIT WAR SEIN JOB BEENDET
Der XNR wartet mit mehreren asymmetrischen Designmerkmalen auf. Eins davon ist die Motorhaube mit einer auffälligen Ausbuchtung auf der Fahrerseite. Die Linie, das Thema dieses fremdartigen, aber doch geschmeidig integrierten Rumpfes, setzt sich hinter dem Cockpit in Form einer Heckflosse fort, die an einen Jaguar D-Type erinnert. Im Cockpit ist diese Flosse mit einer gepolsterten Kopfstütze versehen. Am Heck endet sie in einer verchromten sternförmigen Stoßstange.
Der Wagen ist ein Zweisitzer. Den Innenraum dominiert poliertes Aluminium und schwarzes Leder. Durch ein holzbekränztes Loch Speichenlenkrad hindurch blickt der Fahrer auf eine Reihe sportlicher Instrumente. Statt eines Handschuhfachs gibt es eine feste Lederbox, die man abnehmen und über die Schulter hängen kann (wozu Stauraum für Handtäschchen?). Mit 4,95 Metern ist das Auto fast 60 cm länger als ein E-Type, zudem 15 cm breiter. Kompakt geht anders. Exners Idee eines neuen Sportwagens auf der Basis einer Serienlimousine blieb ein Traum.
Das Äußere des XNR war zu exotisch, seine Karosserie für die Fertigung schlicht zu kompliziert. Er wurde erdacht, geplant, gebaut, vorgeführt – und damit war sein Job beendet. Der XNR wurde an Ghia zurückgegeben und später in Genf verkauft. Ende der 1980er-Jahre ging das gute Stück nach mehreren Besitzerwechseln in den Besitz des Geschäftsmannes Karim Edde über. Nichts lag dem Automobilenthusiasten mehr, als den XNR in seinen originalen Prachtzustand zurückzuversetzen.
UNGLAUBLICH: JEDE RADKAPPE BESTEHT AUS SAGE UND SCHREIBE 30 EINZELTEILEN – DIE HAUPTSÄCHLICH NEU GEFERTIGT WERDEN MUSSTEN. IN HANDARBEIT
Doch erst nach zwanzig Jahren hatte er die richtigen Leute dafür gefunden. Rob Myers von RM Restorations empfahl, den Wagen in Übersee seinem Kollegen anzuvertrauen, Mario Van Raay von RM Auto Restoration. Ein Großteil der Arbeit war einfach, doch manches war auch recht kompliziert. So besteht jede der Radkappen aus dreißig Einzelteilen, die größtenteils in Handarbeit neu angefertigt werden mussten.
Seinen ersten Auftritt nach der Restaurierung hatte der XNR beim Amelia Island Concours d’Ele gance im März 2011, wo er genauso wie in Pebble Beach ein paar Monate später alle Blicke auf sich zog. Im Vorfeld der Show in Pebble Beach nahm Karim Edde zusammen mit seiner Schwester im Beifahrersitz an der 120 Kilometer langen Tour d’Ele gance teil. Der XNR lief fehlerfrei. Karim Edde überließ im August 2012 den Wagen RM Auctions, die ihn in Monterey für fast eine Million versteigerten. Ende gut, alles gut? – Nein.
DAS ENDE DER GESCHICHTE IST WIE DAS HECK DES XNR: SELTSAM ASYMMETRISCH, NICHT SO WIE ERWARTET
Virgil Exner – aus heutiger Sicht eine ganz große Legende des Detroit-Style – hat nach dem Krieg das antiquierte Image von Chrysler radikal erneuert, vielleicht so den Konzern gerettet. Trotzdem wurde er 1961 vom Konzern-Präsidenten gezwungen, seine exotische Designsprache abzuspecken und kleinere Autos zu entwerfen. Noch bevor diese Idee floppte, setzte ihn die Geschäftsführung Ende 1961 vor die Tür. Man glaubte nicht mehr an seinen Traum. Oder seine Ideen.
Was für eine Niederlage. Zusammen mit seinem Sohn gründete Exner ein Beratungsbüro für Design und Gestaltung. Als er 1973 in Michigan verstarb, erinnerten sich nur Insider an sein Werk. Heute ist er als visionärer Stylist futuristischer Kreationen unsterblich. An den Konzern-Chef von 1961 erinnert sich kein Mensch.