Mercedes-Benz W 196R stehend, von hinten aufgenommen
Klassiker

Das Erfolgsrezept des Mercedes-Benz W 196

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OCTANE#05

 

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Fotos Tim Andrew

DER EINZIGE MERCEDES-BENZ W 196, DER SICH NICHT IN EINEM MUSEUM BEFINDET, IST ZUGLEICH DER, MIT DEM JUAN MANUEL FANGIO SEINEN ZWEITEN WM-TITEL ERRANG.

Doch nicht nur der fünffache Weltmeister, sondern auch Tony Dron weiß, wie die geschichtsträchtige Ikone sich anfühlt – auch er durfte vor gut 30 Jahren eine Ausfahrt im Mercedes-Benz W 196 genießen. Lesen Sie hier, wie ihm der Ritt – „eine echte geistige Herausforderung“ – gefallen hat.

Beim Blick ins Cockpit dachte ich, dass man sich am Steuer des Mercedes-­Benz W 196 schon etwas merkwürdig fühlen dürfte. Sitzt der Fahrer doch rittlings über einem breiten Kardantunnel – Kupplung links, Gas und Bremse rechts. Doch als ich dann selbst im Cockpit saß, störte es mich erstaunlicherweise nicht im Geringsten. Um Platz zu nehmen, muss das Lenkrad entfernt werden. Der Sitz ist so breit und fast auch so bequem wie ein Sessel.

Blick in das Cockpit des Mercedes-Benz W 196R
Wer sich in den Mercedes-Benz W 196R setzen möchte, muss zunächst das Lenkrad entfernen – das ist die erste Hürde. Die zweite folgt, wenn es ans Schalten geht …

Viel Konzentration wird für das Bedienen des Schalthebels benötigt, der unter dem rechten Bein versteckt ist. Das Schaltschema hat es in sich: Fürs Einlegen des ersten Gangs wird ein Knopf oben auf dem Schalthebel gedrückt, was den Zugang zur linken Seite der Schaltkulisse ermöglicht. Dann den Schalthebel nach links und nach vorn drücken. Zweiter Gang? Nach hinten, nach rechts, nach hinten. Für den dritten gerade nach vorn, für den vierten nach hinten nach rechts nach hinten – und wieder gerade nach vorn für den längsten Gang. Eine echte geistige Herausforderung!

In dem Buch »The Mercedes­Benz Racing Cars« schreibt Karl Ludvigsen, dass jeder das Schaltschema verwirrend fand. Selbst der als sehr intelligent bekannte Piero Taru gab zu, dass er auf seiner ersten Trainingsrunde im W 196 in den Zweiten statt in den Vierten geschaltet habe. Man kann sich gut vorstellen, wie das geklungen hat.

Was der Motor davon hielt, will man sich lieber nicht ausmalen. Das waren die Gedanken, die mir vor meiner ersten Fahrt im W 196 durch den Kopf gingen. Das war 1983 in Hockenheim – auf Einladung von Mercedes­Presse­chef Günther Molter, der bereits seit 1954 für die Firma gearbeitet hatte. Fangio gewann mit Mercedes-­Benz 1954 und 1955 den Titel und hatte in Rennen meistens Stirling Moss im Nacken.

ALS MIR GÜNTHER MOLTER DREI SESSIONS MIT DEM W 196 GENEHMIGTE, FÜHLTE ICH MICH ENTSPRECHEND GEEHRT – UND ZITTRIG VOR ANGST

Als das Management vorschlug, Moss solle für den Fall, dass Fangio einen Fehler mache, Abstand halten, kam es zu Moss’ berühmter Antwort: »Fangio macht keine Fehler.« Als mir Günther Molter drei Sessions mit dem W 196 genehmigte, fühlte ich mich entsprechend geehrt – und zittrig vor Angst. Es war eines der Leichtbaumodelle mit kurzem Radstand, gebaut für den Grand Prix von Monaco 1955. Fangio lag mit dem Auto in Führung, bis zu einem der raren technischen Defekte des W 196, und gewann da mit einen Monat später in den Niederlanden. Ein wichtiger Faktor für die herausragenden Formel­ 1­ Erfolge von Mercedes-­Benz in jener Ära war die außergewöhnliche Aufmerksamkeit, die jedem Detail zukam: Gab es an irgendeinem Teil einen Defekt, wurde es sofort effektiv modifiziert.

Mercedes-Benz W 196 im Profil
Noch 60 Jahre später flößt der Mercedes-Benz W 196 Ehrfurcht ein.

Ein anderer Faktor war die Geschwindigkeit. Auch in diesem Punkt gab es große Änderungen. Für das Formel­1­Comeback hatte sich das Team ausgerechnet, dass überlegene Geschwindigkeit auf der Geraden das wichtigste Ziel war – und der originale W 196 mit seinem langen Radstand und der Stromlinien­Karosserie war in dieser Beziehung ganz klar das beste F1­-Auto jener Zeit.

Doch als Fangio erklärte, er hätte lieber ein Auto mit freistehenden Rädern, weil er das Auto dann präziser positionieren könnte, wurden neue Karosserien hergestellt. Innerhalb von wenigen Tagen. Dann, im Jahr 1955, veränderte sich überraschender Weise die Natur des Formel­1­Rennsports. Nun ersetzten engere, gewundene Strecken die traditionellen, schnellen Pisten mit ihren langen Geraden. Mercedes-­Benz entwarf daher schnell einen neuen W 196 mit einem Radstand von 221 cm, rund 15,25 cm kürzer als der des Vorgängers. Dieses Auto sollte später als das mittellange gelten, denn nur ein paar Wochen späterer schien eine weitere Version mit einem noch kürzeren Radstand (215,14 cm).

Bei Tests auf der Nordschleife empfanden sowohl Moss als auch Fangio das Fahren im kurzen W 196 als sehr anstrengend, doch beide waren 5,5 Sekunden schneller als im mittellangen. Andere Fahrer, die am selben Tag testeten – Karl Kling und Ingenieur Rudi Uhlenhaut –, waren nicht in der Lage, das volle Potenzial des vergleichweise nervösen kurzen Autos auszuschöpfen. In Hockenheim, auf einer deutlich leichteren und flüssigeren Rennstrecke als der Nordschleife, empfand ich den kurzen W 196 als sehr effektiv, mit guten Bremsen und guter Straßenlage.

Er lenkte gut ein, die Lenkung fühlte sich präzise und reaktionsschnell an. Sein leicht unruhiges Verhalten, Untersteuern oder nervöses Übersteuern, war in Hockenheim kein Grund zur Sorge. Ich erinnere mich nicht mehr an das Drehzahl­Limit, das mir gegeben wurde, doch es lag deutlich unter dem Maximum von etwa 8700 U/min, das 1955 erlaubt war.

UNGLAUBLICH, ABER WAHR: DAS SCHALTEN DES W 196 WAR EINE WISSENSCHAFT FÜR SICH – MIT DER AUCH DIE PROFIS ZU KÄMPFEN HATTEN

Das Auto klang wundervoll und zog schon bei niedrigen Drehzahlen wunderbar an, ohne eine plötzliche Leistungsexplosion bei höheren Drehzahlen. Das Fahren unter diesen Bedingungen war ein reines Vergnügen – mit hoher Suchtgefahr. Als ich nach meinem letzten Stint zurück in der Box war, war die erste Person, die mich ansprach, niemand anders als der berühmte Motorsport­Journalist Denis Jenkinson, der sofort alles darüber wissen wollte. »Weißt du«, sagte er nach einer Weile, »die haben ihn runtergerüstet, damit er mit normalem Benzin gefahren werden kann. Deshalb hattest du nicht die volle Power zur Verfügung, mit der der Wagen 1955 unterwegs war.« Damit hatte er natürlich Recht.

1955, zwischen Monaco und dem Grand Prix der Niederlande, traf Fangio die weise Entscheidung, in Belgien mit einem W 196 mit langem Radstand und freistehenden Rädern zu starten – und gewann damit das Rennen auf der ultraschnellen Strecke von Spa­Francorchamps.

Zwanzig Jahre nach meiner großartigen Erfahrung in Hockenheim hatte ich das Glück, dank einer weiteren Einladung von Mercedes­-Benz, beim Goodwood Festival of Speed Fangios Spa­Sieger fahren zu dürfen. Auch diesmal war das Wetter wunderbar und das Auto lief ohne jeden Makel. Es hat mich überrascht, mit welcher Geschwindigkeit der viel längere W 196 den engen, relativ kurzen Hügel bewältigte. Er fühlte sich ziemlich groß an, legte dafür aber ein gutmütiges, untersteuerndes bis neutrales Fahrverhalten an den Tag. Doch der Großteil meiner Konzentration galt auch diesmal der Aufgabe, mit der verwirrenden Schaltung klarzukommen.


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