Kaum eine andere Automarke reflektiert das Leben und die Persönlichkeit ihres Gründers so präzise wie Lancia.
Berge muss man kennen, um zu verstehen, weshalb Vincenzo Lancia seinen Geburtsort so sehr geliebt hat. Die Gemeinde Fobello liegt sehr hoch, es ist die letzte Häusersammlung an einer sich wild schlängelnden Straße. Die Villa, in der Lancia 1881 geboren wurde, liegt noch etwas höher an einem schmalen Weg, der an einem großen in den Hang gebauten Haus endet. Hier hat er als aufgewecktes, abenteuerlustiges Kind jede freie Minute verbracht. Die Berge waren ideal für ihn.
Doch die Villa war nur der zweite Wohnsitz der Familie. Vincenzos Vater war ein erfolgreicher Konservenfabrikant und seine Fabrik befand sich in Turin. Nach der Einschulung verbrachte Vincenzo daher die meiste Zeit dort. Der Wech-sel verlief nicht ohne Schwierigkeiten. Die Schule war langweilig und er schwänzte öfters den Unterricht. Erst als Vincenzo die Fabriken, die das anbrechende Transportzeitalter aus dem Boden sprießen ließ, entdeckte und immer wieder aufsuchte, wurde Turin für ihn interessant.
Der interessanteste Ort lag direkt hinter seinem Haus: ein Familienbetrieb namens Ceirano, der Fahrräder und später Autos herstellte. Dort trat Lancia mit 17 seinen ersten Job an. Offiziell als Buchhalter, zweifelsohne ein Zugeständnis an seinen Vater, der darauf bestand, dass sein Sohn eine handfeste Ausbildung absolvierte – also nicht als Ingenieur.
In Wirklichkeit war er Mechaniker. Und zwar ein guter, mit einem instinktiven Verständnis für Technik. Als Fiat kurz nach seiner Gründung Cei-rano im Jahr 1899 übernahm, ging Lancia mit, wurde Testfahrer und kurz darauf danach Werksrennfahrer. Seine Laufbahn im Motorsport währte nicht lange. Nicht aus Mangel an Talent – im Gegenteil: Lancia war gewöhnlich der Schnellste auf der Strecke, schneller als sein legendärer Teamkollege Felice Nazzaro –, doch auf der Strecke verwandelte sich der sonst gut gelaunte und umgängliche Lancia zum ungestümen Kämpfer, dem Motoren nicht immer standhielten.
1906 fasste er den Entschluss, seinen Enthusiasmus für Automobile auf einem anderen Gebiet auszuleben. Im November gründete er im zarten Alter von 25 die Firma Lancia & C., um selbst Autos zu bauen. Hier erwies sich seine Kindheit als hilfreich. Lancia-Automobile waren schon bald für ihre Qualität, ihre Exklusivität und ihr gutes Fahrverhalten bekannt.
Vincenzo Lancia nutzte alles, was er je gelernt hatte. Er wollte, dass seine Autos auf öffentlichen Straßen ausdauernd schnell waren, und zwar auf sichere und – was ihm besonders wichtig war – zuverlässige Weise. Besonders in der Anfangsphase absolvierte der Firmenchef höchstpersönlich viele Tests auf den Bergstraßen, auf denen er früher Rennen gefahren war, und bei Wochenendausflügen mit der Familie nach Fobello jagte er so manchen Prototypen die sich schlängelnde Straße hinauf in die kleine 200-Seelen-Gemeinde. Zugleich kannte Lancia auch seine Grenzen. Er war ein großartiger Techniker und Produktplaner mit vielen kreativen Ideen, aber er war kein Designer. Daher legte er die Ziele fest und ließ sich von Spezialisten dabei helfen, sie zu erreichen. Er war, entgegen der öffentlichen Meinung, ein Innovator, kein Radikaler.
Seine Autos wurden Meilensteine der Automobilgeschichte, der Lancia Lambda (so wie das Vorgängermodell) mit Einzelradaufhängung, zudem mit hydraulischen Stoßdämpfern und erstmals selbsttragender Karosserie; auch der Aprilia – der fortschrittlichste Kleinwagen vor dem Krieg und noch lange danach – bestach durch innovative Konzepte, war dabei aber nicht experimentell. Lancia ging es um mechanische Raffinesse, nicht um skurrile Exzentrizität.
Anders ausgedrückt: Seine Autos hatten etwas mit dem Willen zu tun, das Leben möglichst stil-voll zu genießen. Mit seinem großen, runden Gesicht und dem gewinnenden Lächeln verstand er etwas von gutem Wein und Essen, er liebte die Oper (vor allem Wagner), hatte selbst eine gute Singstimme und gab bei so manchem gemütlichen Abend eine Kostprobe davon. Er war ein loyaler Freund, ein fortschrittlicher Arbeitgeber, ein ergebener Ehemann und Vater – und er sorgte dafür, dass es den Leuten um ihn herum gut ging.
Das war es dann vielleicht auch, was ihn sein Leben kostete. Am 15. Februar 1937 wachte er nach Mitternacht mit Schmerzen in der Brust auf, beschloss jedoch aus Rücksicht auf die Familie, niemanden zu wecken und den Morgen abzuwarten. Es war ein Herzinfarkt. Mit nur 55 Jahren starb er an demselben Tag. Er ruht in dem Wald hinter der Villa in Fobello, wo seine Nach-fahren heute noch den Sommerurlaub verbringen. Für jemanden, der die Berge liebt, ist es ein herrlicher Ort.
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