Text David Burgess-Wise// Fotos Scott Williamson
GEFORMT IM ART-DÉCO-STIL UND REICH AN KURVEN, HAT DER BUGATTI 57 ATLANTIC EINE UNGEWÖHNLICH TIEF GEZOGENE KÜHLERLINIE UND RELATIV VIEL GLAS. IN JEDEM FALL IST ER AUFFALLEND SCHÖN UND SEHR EXTRAVAGANT.
Die exakte Summe ist unbekannt, doch der Atlantic galt eine Zeit lang als das teuerste Automobil aller Zeiten. Auch bevor die unglaubliche Summe von rund dreißig oder vierzig Millionen Dollar dafür bezahlt wurde, war diese Ikone des Art Déco in jeder Hinsicht ungewöhnlich. Mit Stil und einer Aura. Aus einer Zeit, in der optische Reize auch bei Autos immer wichtiger wurden. Da wirkte der Atltantic ungeheuer dramatisch.
Es war immer schon so mit Bugattis: Ihr Mythos hat den Preis zu allen Zeiten auf die Spitze getrieben. Dafür sorgten besessene Sammler wie die Gebrüder Schlumpf, die 1962 um die 100.000 Dollar für die Kollektion des Amerikaners John Shakespeare hinblätterten und für umgerechnet 62.000 Euro vierzehn Fahrzeuge aus dem Nachlass von Bugatti übernahmen. Selbst für das Wall Street Journal, normal nicht mit klassischen Automobilen konfrontiert, war es berichtenswert, als im Jahr 2010 ein einzelner Bugatti für mehr als dreißig Millionen Dollar verkauft worden war.
Der Käufer des Atlantic, räumte Peter Mullin ein, habe dem Mullin Automobile Museum vorgeschlagen, »den Wagen für einen gewissen Zeitraum ausstellen zu dürfen«. Bei dem für die historische Rekordsumme versteigerten Wagen – Fahrgestellnummer 57374 – handelt es sich um einen Type 57S Atlantic, gebaut zwischen 1936 und 1938. Zuvor befand er sich im Besitz von Dr. Peter Williamson, der 2008 einem Lungenkrebsleiden erlag. Williamson, ein angesehener Spezialist für Epilepsie, besaß vierzehn Bugatti in exzellentem Zustand plus einen kleinen T52 für Kinder sowie einen noch von Ettore Bugatti entworfenen Peugeot Bébé. Ein Großteil des Erlöses aus dem Verkauf seiner Sammlung wurde einem medizinischen Hilfsprogramm gestiftet.
WAS MACHT DAS AUTO SO BESONDERS?
Zunächst seine Seltenheit: Lediglich vier Exemplare des T575 wurden gebaut. Nur zwei – dieser 57374 und der 57591 – sind im Originalzustand erhalten. Der dritte – 57453 – war ein Vorführwagen, der in Einzelteile zerlegt noch vor dem Zweiten Weltkrieg verschwunden ist. Der vierte – 57473 – wurde nach einem Totalschaden nicht sachgemäß rekonstruiert. Mit abgewürgtem Motor war er auf einem Bahnübergang stehengeblieben und von einer Lokomotive zerstört worden.
Selten. Mit Stil. Und einer Aura. Aus einer Zeit, in der optische Reize auch bei Autos immer wichtiger wurden, in der die ersten Industriedesigner aktiv wurden: da wirkte der Atlantic ungeheuer dramatisch. Er war die konsequente Weiterentwicklung des auf dem Pariser Autosalon 1935 vorgestellten Aérolithe, einem Prototypen auf kurzem T57-Chassis und – der Legende zufolge – mit einer Karosserie aus dem Werkstoff Elektron. Ob tatsächlich die im Flugzeugbau übliche Legierung (aus Magnesium, Aluminium und Zinn oder Zink) verwendet wurde, darf angezweifelt werden.
Das ultraleichte Metall, 1908 von der Chemischen Fabrik Griesheim-Elektron entwickelt, zeichnet sich aus durch seine gute Korrosionsbeständigkeit – lässt sich aber aufgrund des hohen Magnesiumanteils (hochentzündlich) kaum schweißen. Zur jener Zeit mit solch einem Werkstoff Blech zu treiben, scheint unmöglich, in jedem Fall ziemlich irrsinnig. Es klingt daher wie eine für Bugatti typische Übertreibung, wenn kolportiert wird, die Karosse des Aérolithe sei von extra herangekarrten deutschen Spezialisten in Molsheim geformt worden.
DIE RUNDKÖRNIGEN NIETEN VERLEIHEN DEM GANZEN DEN HAUCH EINES GEPANZERTEN WAGENS, WAS DURCH DIE IN ÄHNLICHEM STIL AUFGESETZTEN KOTFLÜGEL UND VOR ALLEM DANK DER RUND UMS HECK FÜHRENDEN NIETENLINIE BIS HINAUF ZUR SCHEITELFALZ ZUSÄTZLICH BETONT WIRD.
Der Aérolithe, von Bugatti ganz schlicht als »Coupé Special« vorgestellt, wurde wahrscheinlich eher aus Aluminium gefertigt. Die mit dem exklusiven Werkstoff assoziierte schwierige Verschweißbarkeit diente aber als Begründung dafür, dass die beiden Hälften der Karosserie über ein »Rückgrat« von vorne bis hinten miteinander vernietet wurden.
Paul Kestler kommentiert dies in Bugatti – l’Evolution d’un Style so: »Die rundkörnigen Nieten verleihen dem Ganzen den Hauch eines gepanzerten Wagens, was durch die in ähnlichem Stil aufgesetzten Kotflügel und vor allem dank der rund ums Heck führenden Nietenlinie bis hinauf zur Scheitelfalz zusätzlich betont wird.« Das Styling des Wagens verantwortete Jean Bugatti. Ettores überaus talentierter 26-jähriger Sohn entwarf das zweifelsohne hinreißende Profil, bevor er sich Gedanken über das vordere Ende machte, den einzigen, nicht vollkommen Aspekt des Gesamtwerks. Beim Atlantic versuchte er, die genietete Rückenfalz beizubehalten und präsentierte eine neue, wesentlich attraktivere Kühlereinfassung.
MIT EINER GANZ BESONDEREN AURA
Der Atlantic wirkte seierzeit ungeheuer dramatisch. Dennoch ließ auch das erste der vier Exemplare viel von seinem Unterbau sehen. Bei den späteren Modellen wurden die Frontbleche etwas weiter nach unten gezogen und die Lampen in stromlinienförmige Fassungen gesetzt, was der Ästhetik dient. Ganz in einer Klasse für sich ist dagegen das Profil: im Jugendstil geschwungene Linien und Kurven verjüngen sich verführerisch im Heck. Die hinten angeschlagenen Türen sind im Einklang mit den organisch geschwungenen Seitenfenstern.
Drei Chromstreifen nach Art eines Kometenschweifs verschönern die vergitterten Lufteinlässe längs der Motorhaube – die einzige Dekoration auf dem ansonsten schlichten Blechkleid des Type 57. Als der Atlantic 1971 zum letzten Mal auf den Markt kam, ging er für den damaligen Rekordpreis von 59.000 Dollar an Bugatti-Fan Dr. Williamson. Dieser erwies sich als aufgeklärter Besitzer, seine Bugattis nutzte er als Alltagsfahrzeuge.
Er fuhr und genoss den Atlantic viele Jahre trotz diverser Umbausünden. Gleichzeitig erforschte er detailliert die Geschichte des Wagens, bis er entschied, ihn in den Zustand von 1939 zurückzuführen – als er mit dem Einbau des Kompressors zum 57SC aufgewertet wurde und mit rund 210 km/h zum wohl schnellsten Straßenfahrzeug seiner Ära avancierte. Williamson vertraute den Atlantic dem Bugatti-Spezialisten Jim Stranberg an. Die Karosserie- und Rahmenarbeiten wurden an einen weiteren Restaurator delegiert.
IM JUGENDSTIL GESCHWUNGENE LINIEN UND KURVEN VERJÜNGEN SICH VERFÜHRERISCH IM HECK. DREI CHROMSTREIFEN NACH ART EINES KOMETENSCHWEIFS VERSCHÖNERN DIE VERGITTERTEN LUFTEINLÄSSE LÄNGS DER MOTORHAUBE – DIE EINZIGE DEKORATION AUF DEM ANSONSTEN SCHLICHTEN BLECHKLEID DES TYPE 57
Um den Job fristgerecht umzusetzen, zog der Metallexperte Scott Sargent mitsamt Familie für fast ein Jahr von Vermont zu High Mountain Classics in Colorado. Sargent versetzte die Scheinwerfer und die Heckfenster wieder in ihren ursprünglichen Zustand. Während einer Europareise hatte er das Glück, am Ufer der Seine auf einen jungen französischen Bugattifahrer zu treffen, in dessen Archiv sich die Farbrezeptur für die originale Lackierung befand.
Die folgenden sieben Monate verbrachte ein weiterer Restaurator, Glenn Watt, mit akribischem Sandstrahlen, Schleifen und schließlich dem Farbauftrag im Metallic-Silberblau der dreißiger Jahre. Währenddessen nahm sich Holzspezialist David Chamberlain das Interieur vor und konstruierte neue Türeinfassungen, ein neues Armaturenbrett und einen Lenkradring – mit französischem Walnussholz. Das i-Tüpfelchen dieser ganzen Anstrengungen kam 2003, als der Atlantic den Titel »Best of Show« in Pebble Beach abräumte. Nach dem Preis der höchsten Ehre fuhr Dr. Williamson seinen Atlantic wie zuvor. Er besaß ihn, um ihn zu genießen. Um ihn zu genießen, fuhr er ihn. Ob das auch für den neuen Besitzer und sein millionenschweres Spielzeug gilt?