Text Hermann Ries // Fotos Mercedes Benz Classic Archiv
DIESES DACH! ES MACHTE AUS DEM MERCEDES-BENZ 230 SL EINE DER BERÜHMTESTEN AUTOMOBILEN SKULPTUREN. WIR DREHEN DIE UHR UM FÜNFZIG JAHRE ZURÜCK UND SCHAUEN UNS DIE ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DES PAGODENDACHS EINMAL GENAUER AN.
Wie alle Genies winkt er ab, wenn er auf seinen größten Wurf angesprochen wird. »Non Monsieur – nicht ich habe das Pagodendach erfunden.« Paul Bracq treibt die Bescheidenheit auf die Spitze, will nicht einmal als »Designer des Pagodendachs« bezeichnet werden. »Und ich bin auch kein Designeur«, beharrt er mit starkem französischem Akzent, den die Deutschen so lieben. Warum diese Selbstverleugnung?
Bracq ist nämlich durchaus ein Designer, ein Automobildesigner, genauer gesagt. Und einer der berühmtesten dazu. Zwar ist sein Name selbst unter Insidern nicht so präsent wie ein Bertone, Pininfarina oder Giugiaro. Doch gäbe es eine Hall of Fame der Karosserie-Couturiers, so wäre sein Name für immer in Marmor gemeißelt.
Am 13. Dezember 1933 erblickte Paul Bracq in Bordeaux das Licht der Welt. Er besuchte von 1950 bis 1953 die renommierte Pariser Design- und Kunstschule École Boulle, heuerte nach seinem Abschluss beim Designer Philippe Charbonneaux an, dessen Werke später zu festen Institutionen im Centre Pompidou in Paris oder im Museum of Modern Art in New York wurden. Noch heute, mit über achtzig Jahren, lässt Bracq seinem Temperament freien Lauf, wenn betont: »Ich bin Carossier, ein Karosserie-Gestalter! Ich kämpfe für die Kunst der Karosserie-Gestaltung!«
Eine ebenso klare Antwort gibt der Maître Carossier auf die Frage, wer denn nun das legendäre Pagodendach des Mercedes-Benz 230 SL erfunden habe. Er sagt: »Es war eine Teamarbeit von Karl Wilfert als Chef des Bereichs Fahrzeugkonstruktion und Vorentwicklung, Béla Barényi als Vordenker und mir. Doch die ursprüngliche Idee stammt von Barényi.« Der 1907 geborene Barényi war als Konstrukteur seiner Zeit weit voraus, gilt bis heute als Begründer der passiven Sicherheit von Automobilen. Die Dachfläche wollte Barényi als Nutzfläche gestalten. Für ein Campingzelt oder als Aussichtsplattform etwa.
DAS NACH INNEN GEWÖLBTE DACH WAR ABER NICHT NUR BESONDERS TRAGFÄHIG. ES MACHTE ZUDEM DEN GANZEN AUFBAU STEIFER UND FORMSTABILER
Die Dachkonstruktion fand ihren Weg in ein damals aktuelles Projekt – den W 113, bis heute bekannt als »die Pagode«. Bracq hatte, ohne es in seiner ganzen Bedeutung zu erfassen, einen Meilenstein geschaffen, einen Obelisk des Karosseriedesigns. Sein erster großer Auftrag war gleich sein bedeutendster: ein neues Coupé-Dach mit vergrößerter Heckscheibe für den 190 SL zu gestalten. Inzwischen zum Leiter der Design-Vorentwicklung avanciert, schuf Bracq also ein elegantes Hardtop, welches das im Herbst 1959 altbacken wirkende frühere Dach ablöste.
Als Bracq noch im selben Jahr den für 1963 geplanten Nachfolger des 190 SL skizzierte, verwendete er zunächst diesen Coupé-Gedanken weiter. Der junge französische Designer war in seinem Element. Dass man später einmal ebenso deutlich wie bewundernd sagen würde, ein Franzose habe die formschönsten deutschen Automobile entworfen, hätte er sicher nicht geglaubt. Das konkave Dach, es ließ Bracq ebenso wie Barényi und Wilfert nicht mehr los. 1960 begann das Trio das Pagodendach beim 230 SL in die Realität umzusetzen.
Schließlich war Paul Bracq derjenige, der die von Béla Barényi im Grundsatz erdachte Dachform zeichnerisch ebenso elegant wie harmonisch und stilsicher in Form goss. Heut, fünfzig Jahre später, werden die Vorteile des Pagodendachs in der Fachliteratur gelegentlich angezweifelt. Das ist der Punkt, an dem Paul Bracq zum Advocat de la Pagode wird: »Wenn wir ein klassisch nach oben gewölbtes Dach entworfen hätten, wäre es bei gleicher Stabilität und gleich hohem Einstieg zehn Zentimeter höher geraten und hätte das Auto zu bullig wirken lassen. Die Alternative zum konkaven Dach wären zwangsläufig eben der um zehn Zentimeter verringerte Einstieg und die schlechtere Rundumsicht gewesen. Das Pagodendach hat also in erster Linie funktionelle Gründe! Die Ästhetik und der moderne Look spielten die zweite Geige.«
BEI ALLEM LOB – DIE PAGODENFORM HATTE AUCH OFFENSICHTLICHE NACHTEILE
Und er setzt nach: »Außerdem wäre der W 113 dann vielleicht nie zu jenem begehrten Klassiker geworden, der er heute ist.« Es lässt sich nicht leugnen, die Pagodenform hatte auch unbestreitbare Nachteile. Betrachten wir dieses Auto mit heutigen Augen, so heißt der schärfste Widersacher Aerodynamik. Die Fakten liegen schonungslos auf dem Tisch: Gegenüber dem 190 SL mit einem Luftwiderstandsbeiwert von 0,461 verschlechterte sich der cW-Wert des 230 SL mit aufgesetztem Pagodendach auf 0,515 – mit geschlossenem Stoffdach betrug er immer noch 0,481.
Doch gedanklich sind wir im Jahr 1963, eine nicht perfekte Luftumströmung im Detail interessierte damals weniger. Damals. Ungeachtet dessen machte die faszinierende Dachform Karriere, besser gesagt: Furore. Sie schlug ein wie eine Sexbombe der Swinging Sixties, polarisierte, faszinierte, schreckte auf und ab. Sie war es, die dem Zweisitzer bereits während seiner Bauzeit im Volksmund zum Kosenamen Pagode verhalf.