Text Thomas Wirth // Fotos Stefan Warter
DIE LINIE KAM VON MARIO FISSORE IN ITALIEN, DIE TECHNIK AUS DEUTSCHLAND. KARRIERE HAT DAS KLEINSERIEN-COUPÉ JEDOCH IN ARGENTINIEN GEMACHT. DER DKW 1000 SE FISSORE ERZÄHLT EIN FRÜHES KAPITEL DER AUTOMOBILEN GLOBALISIERUNG
Buenos Aires hat sein DKW-Kapitel vergessen. Dabei war es vor gut einem halben Jahrhundert Argentinien, das sich mutig zeigte, als es um die Produktion der Italo-Variante des Auto Union 1000 Spezial ging. Heute sind Oldtimer in Argentinien mehr als rar. Und überall staunen sie über den DKW Fissore. Vielleicht denkt so mancher dabei auch an Julio Sosa, den Tango-König aus den 1960ern.
Einer der größten Hits von Julio Sosa hieß Mala Suerte – das böse Schicksal, oder ganz einfach: Pech. Anfang der 1960er-Jahre war Sosa in Buenos Aires der Star, einer, der mit seiner eindrucksvollen Klangfarbe über Wehmut klagte, dazu jedoch stets auch die Hoffnung besang. Die Menschen liebten ihn, er liebte die Musik – und vor allem liebte er Tempo, hohes Tempo. Erst war er auf einer Vespa unterwegs, dann in der knutschkugeligen Isetta und später einem BMW 700 Coupé. Den Traum vom DKW 1000 SE Fissore erfüllte er sich erst ein paar Jahre später.
In seinem Fissore raste Julio Sosa rastlos durch seine Stadt, bis nach La Boca im Osten der Stadt. Dort hat der Tango seine Wurzeln. Bettelarm war La Boca, doch stolz und bunt und bald voller Tango: Die Menschen sangen, spielten, mit ihrer alten Heimat im Herzen und dem Glauben an den Schimmer Glück, den sie erhofften. Wenn Julio Sosa mit seinem Fissore durch La Boca fuhr, dürften sie sich nach ihm umgedreht haben.
So, wie sie heute auch staunen. Und lauschen: Was ist das für ein Räng-täng-täng, dieses seltsam sägende Singen? Eine Antwort weiß hier niemand auf die Frage, die ihnen das kleine, grüne Coupé stellt. Kecke Flossen trägt es im Heck, eine elegante, mondäne Form, dazu diese helle, näselnde Aussprache seines Dreizylinders mit nur zwei Takten.
FLIRT AUS COUPÉ UND ROADSTER
Buenos Aires hat sein DKW-Kapitel vergessen. Umso mehr fällt der Fissore auf. Der Entwurf ist über ein halbes Jahrhundert alt. Er stammt von der Carrozzeria Fissore aus Savigliano bei Turin. Deren Chef Mario Fissore hatte 1959 den Flirt aus Coupé und Roadster im Piemont entworfen, wo man sich dem Schönen und Schmackhaften schon immer überaus zugewandt zeigte. Unter dem schicken Blech, à la mode gezeichnet für die ausgehenden 50er als Traum von persönlichem, verbarg sich die unkapriziöse Zweitakttechnik des DKW 3=6 – samt bewährtem Frontantrieb, einer Firmentradition seit Vorkriegszeiten.
Auf Rallyes und Zuverlässigkeitsfahrten hatte sich das DKW-System bewährt. Den ersten Abnehmer fand die Karosseriemanufaktur vor der eigenen Tür. Motauto, Auto-Union-Importeur in Bologna, nahm das geräumige Coupé und den Roadster als 1000 SE Millespecial in sein Lieferprogramm auf. Die komplette Technik, inklusive Rahmen, bezog Motauto als Bausatz aus Deutschland. Doch der Verkauf kam in Italien nicht so recht auf Touren. Fünf Jahre lang schleppte sich das Kleinstserien-Coupé durchs Leben, dann zog Motauto den Stecker.
Das letzte Fahrzeug verließ 1964 das Fissore-Werk in Savigliano. Fissore musste sein Glück woanders suchen. Er verhandelte über eine Produktion in Spanien, was jedoch ebenso scheiterte wie der Versuch, mit Partnern in Brasilien eine Fertigung aufzunehmen. Dort gab es, ebenfalls ab 1963, dennoch ein Auto namens DKW Fissore – das jedoch war ein völlig anderer Entwurf: ein erheblich modernisierter Nachfolger der 3=6-Limousine mit den klaren Linien der 1960er-Jahre. Für das kleine Luxus-Coupé sahen sie an der Copacabana keine Chance.
UNTER DEM SCHICKEN BLECH VERBARG SICH DIE KAPRIZIÖSE ZWEITAKTTECHNIK DES DKW 3=6 SAMT BEWÄHRTEM FRONTANTRIEB
Die Argentinier zauderten weniger. Warum ausgerechnet sie den Mut hatten, die Produktion der Italo-Variante des Auto Union 1000 Spezial zu starten, kann heute niemand mehr so recht sagen. Sicher ist, dass in Santa Fé die Firma FACE (Fábrica Argentina de Carrocerías Especiales) die Stahlblechkarosserien presste. Fissore betrieb es als Tochterunternehmen. Noch um einiges älter ist die Geschichte der deutschen Auto Union in Südamerika.
Schon vor dem Zweiten Weltkrieg hatte man diese fernen Märkte im Blick gehabt, besonders Brasilien und Argentinien. Dort konnten die robusten Zweitakter derart überzeugen, dass ein einheimisches Unternehmen im argentinischen Córdoba die DKW-Technik in den 1950ern kurzerhand kopierte. Mit massiven Einfuhrzöllen machte Argentinien – wie übrigens auch Brasilien – zudem jede Form von Import uninteressant. Ausländische Hersteller wie die Auto Union zwang das in Lizenzverhandlungen. Als Partner vor Ort trat die eigens gegründete Industria Automotriz Santa Fé, S.A. (IASFSA) an.
DIE ARGENTINIER ZAUDERTEN WENIGER. WARUM AUSGERECHNET SIE DEN MUT HATTEN, DIE PRODUKTION DER ITALO-VARIANTE DES AUTO UNION 1000 SPEZIAL ZU STARTEN, KANN HEUTE NIEMAND MEHR SO RECHT SAGEN.
Ab 1959 investierte die Auto Union kräftig in Argentinien. 1960 startete die Produktion der Limousine auf brandneuen Anlagen. Neben den zwei- und viertürigen Limousinen baute Automotriz in Folge auch den Kombi und diverse Schnelllaster-Varianten in Lizenz, hier »Utilitario« genannt. 1963 stießen Fissore-Coupés und -Roadster dazu. Es lief zunächst nicht schlecht, es lief aber auch nicht gut und vor allem nicht lange. 1968 schlitterte die argentinische DKW nach 30.000 gebauten Exemplaren in den nationalen Konkurs.
Daniel Mazaffre, der für einen Oldtimersammler in Buenos Aires arbeitet, schätzt: »Vermutlich gibt es keine zehn fahrbereite Exemplare mehr.« Mazaffre kennt die Geschichte des grünen Coupés aus dem Effeff, in wirklich jedem Detail und Bestandteil. Der hier abgebildete DKW 1000 SE Fissore trägt die Chassisnummer FE0131 (Karosserie: FFA132) und ist, bei nur drei Vorbesitzern, gerade einmal 115.000 Kilometer gelaufen. »Der Wagen ist noch zu 90 Prozent original«, weiß Mazaffre.
Die Technik haben sie überholt, ebenso die Bremsen und das Fahrwerk. Ansonsten viel gelassen, denn: »Wir wollten so viel wie möglich bewahren.« Mit den kleinen Schäden, beispielsweise im Leder der Sitze, lässt sich leben. Leicht unrund, typisch Zweitakter eben, sägt der knapp ein Liter große Dreizylinder im Leerlauf vor sich hin.
Ein Auto zum Wohlfühlen, in dem man sich allemal präsentieren konnte. Im Argentinien der 1960er war für den Durchschnittsbürger jedes Auto unerreichbar, ein exklusives wie der Fissore erst recht. Es blieb bei 701 Exemplaren, die in Handarbeit unter Anleitung eigens aus Italien entsandter Fissore-Experten geschweißt wurden, 226 davon sogar in einer zweiten Serie ohne Flossen und ohne seitliche Ziergitter – erstaunlich aufwendige Änderungen bei einer derart kleinen Stückzahl.
TATSÄCHLICH FAND TANGOKÖNIG JULIO SOSA IN SEINEM DKW FISSORE DEN TOD – MIT NUR 38 JAHREN WICKELTEN ER UND SEIN COUPÉ SICH UM EINEN MAST
Auf den Straßen von Buenos Aires tummeln sich gesichtslose Pkw aus Japan und Korea, auch südamerikanische Renaults. Niemand schaut in Argentinien leichten Herzens zurück in vergangene Epochen, wo so viel Leid und Schmerz zu sehen sind. Oldtimer sind nicht zu sehen: Überall staunen sie hier über den DKW Fissore. Vielleicht ahnen sie, dass er eine Reliquie aus der alten Heimat Europa ist. Manche erinnern sich noch an den Tango-König aus den 1960ern – Julio Sosa.
Für seine zahllosen Unfälle war der Hasardeur längst berüchtigt, als er in seinem Fissore am 25. November 1964 frühmorgens um 3.20 Uhr in einem wilden Manöver auf der Avenida Figueroa Alcorta einem Lastwagen auswich. Er verlor die Kontrolle und schleuderte gegen einen Mast. Mit nur 38 Jahren erlosch die berühmte Stimme des Tangos, die Bilder seines zerschellten Fissore gingen durch alle Zeitungen. Julio Sosas Traum vom schnellen Leben fand in einem Fissore sein Ende. »Mala suerte«, das Pech, dieses letzte Mal nicht nur schnell, sondern zu schnell gewesen zu sein. Sein Leben, das seines Autos, war voller Schönheit, Hoffnung und Tragik. Wie ein Tango.