Das blaue Wunder

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Text David Burgess-Wise
Nach einer preisgekrönten Restaurierung erstrahlt der Talbot-Lago in altem Glanz – mindestens.
Pierre Boncompagni und der Talbot – das war Anfang der 1950er Jahre ein Traum-Duo: Erst dieses schöne Auto machte „Pagnibon“, so der Künstlername des Fahrers, zu einer festen Rennsportgröße – bis diese 1953 durch einen tragischen Unfall ein jähes Ende nahm. Jahre später, nach einigen Besitzerwechseln, ersteigerte ihn Sir Michael Kadoorie, ein Unternehmer aus Hongkong. Dieser fällte die kluge Entscheidung, das zu erhalten, was man für die bemerkenswerte Originalität des Autos hielt, und vertraute das Auto der Firma Ashton Keynes Vintage Restorations an. Im Juni 2014 war es soweit – die erste Ausfahrt mit dem wiederhergestellten blauen Wunder konnte stattfinden.
Man muss schon lange suchen, bis man in einem Nachschlagewerk für Motorsport den Namen Pierre Boncompagni findet. Und das, obwohl der Mann in seiner kurzen und kometenhaften Karriere als Rennfahrer 29 Klassen- und Gesamtsiege verbucht hat, die Hälfte davon mit einem Talbot-Lago, der schon beim ersten Rennen zehn Jahre alt war. Über Boncompagni lag ein dunkler Schatten – weswegen er es vielleicht vorzog, unter dem Pseudonym »Pagnibon« seine Rennfahrerkarriere zu bestreiten. Als Sohn italienischer Einwanderer wurde er am 19. Mai 1913 in Nizza geboren. Im September 1937 eröffnete er in der Rue St. Joseph eine Werkstatt, um Autos zu verkaufen und zu reparieren.
Richtig in Schwung kam Pagnibons Rennfahrerkarriere 1950, als er am Steuer jenes Talbot auftauchte
1944 tauchte jener letzte Talbot von Paulin aus der Versenkung auf und wurde an einen Monsieur Leveque verkauft, der ihn 1946 erstanmeldete. Angetreten war Pagnibon mit seiner eigenen Écurie Nice auch mit einem Cisitalia, einem Cooper sowie einem Deutsch & Bonnet mit 500-ccm-Panhard-Boxermotor; jedoch ohne Erfolg. Mit dem Talbot siegte er in der Saison auf den unterschiedlichsten Strecken. Beim Bergrennen am Mont Ventoux gewann der Talbot nicht nur die Klasse der geschlossenen Autos über zwei Liter, sondern stellte mit 15:44 Minuten und einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 82,372 km/h einen neuen Klassenrekord auf.
Mit einem Sieg beim Großen Preis von Agadir beendete Pagnibon am 27. Januar 1952 die Rennkarriere des Talbot. 16 Rennen hatte das Auto bestritten, bei 14 hat es gewonnen – sicher eine einzigartige Erfolgsquote
Mit einem Sieg beim Großen Preis von Agadir beendete Pagnibon am 27. Januar 1952 die Rennkarriere des Talbot. 16 Rennen hatte das Auto bestritten, bei 14 hat es gewonnen – sicher eine einzigartige Erfolgsquote. Pagnibon stieg danach um auf Ferrari. Pagnibons Ausnahmekarriere fand am 7. Juni 1953 in Hyères ein jähes Ende, als er in dem schwer zu kontrollierenden Ferrari 340 MM Touring Barchetta von Mike Hawthorn mit 130 km/h in die gefährliche Hippodrome-Kurve einbog und eine Ladung Schmutz auf seine Brille abbekam. Das nahm ihm die Sicht, er verlor die Kontrolle, raste gegen einen Strommast und wurde über die Motorhaube aus dem Wagen geschleudert. Als der Rettungswagen das Krankenhaus in Hyères erreichte, wurde nur noch sein Tod festgestellt. Sein früherer Talbot tauchte im Oktober desselben Jahres aus einer Garage im Pariser Vorort Yvelines wieder auf. Jahre später, nach einigen Besitzerwechseln, brachte ihn Betty Locke in eine Auktion von Bonhams & Butterfelds ein, wo er von Sir Michael Kadoorie, einem Unternehmer aus Hongkong, für 4,8 Mio. Dollar ersteigert wurde. Kadoorie fällte die kluge Entscheidung, das zu erhalten, was man für die bemerkenswerte Originalität des Autos hielt, und vertraute das Auto der Firma Ashton Keynes Vintage Restorations an.
Die Restauratoren waren geschockt. Die Annahme, seit Pagnibons Einsätzen mit dem Talbot sei die Lackierung unangetastet geblieben, wurde beim Auseinandernehmen des Wagens erschüttert. Es handelte sich keineswegs um die Originalfarbe, sondern um eine Umlackierung; und um keine besonders gute. Unter den Radkästen war angetrockneter Schmutz überspritzt worden. Technisch war der Wagen in nahezu unverändertem Zustand wie zu Pagnibons Zeiten. Doch die viel gepriesene verblasste Lackierung war eher auf die Vernachlässigung in Lindley Lockes Garage zurückzuführen. Das Vermächtnis einer regen Renngeschichte war sie mit Sicherheit nicht. Man entschied, den Talbot in den Zustand zu versetzen, in dem Pagnibon ihn als Rennwagen benutzt hatte. Glücklicherweise waren Reste des originalen Französischblau unter dem Kühleremblem noch erhalten – das Nachmischen der Farbe war daher kein Problem. Das Streben nach absoluter Authentizität erstreckte sich daraufhin bis ins kleinste Detail. Das unmittelbare Ziel war Pebble Beach 2014.
Zur Überraschung aller war die Karosserie des Talbot in einem bemerkenswert guten Zustand. Nahezu der komplette Holzrahmen konnte erhalten werden. Das einzige Teil der äußeren Hülle, das ersetzt werden musste, war ein kleines Stück vorn an der Motorhaube. Schließlich wurde die Karosserie in Pagnibons markantem Gauloise-Blau lackiert und auf eine Vorrichtung montiert, wo sie auf die Wiedervereinigung mit dem Chassis wartete. Die Ölwanne war schwer verdreckt, der Zylinderkopf irreparabel. Der komplett überholte Motor wurde im Januar 2014 einem ersten Testlauf unterzogen. Im Juni war das Auto bereit für seine erste Ausfahrt. Der Wagen musste anschließend noch zum Feintuning an einen Spezialisten übergeben werden. Im Anschluss blieb nur noch Zeit für einen einzigen Test auf der Straße, bevor der Pagnibon-Talbot nach Pebble Beach verschifft wurde, wo er – die Klasse „European Classic Late Closed“ gewann.
TALBOT-LAGO T150C SS
BAUJAHR 1939 MOTOR 3996 ccm Reihensechszylinder, OHV, Solex-Dreifachvergaser MOTORLEISTUNG 140 PS KRAFTÜBERTRAGUNG Viergang-Talbot-Vorwählgetriebe, Hinterradantrieb LENKUNG Schnecke und Rolle FAHRWERK Vorne Querblattfedern, hydraulische Stoßdämpfer; hinten Starrachse mit Halbelliptikfedern, Stoßdämpfer BREMSEN Trommeln mit hydraulischer Kraftübertragung LEERGEWICHT etwa 1200 kg HÖCHSTGESCHWINDIGKEIT etwa 160 km/h
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